Unter den Taliban leben …

Die radikale Bewegung markiert den vierten Jahrestag ihrer Machtübernahme in Afghanistan

Am 15. August 2021 nahmen Kämpfer der Taliban* ohne Widerstand die afghanische Hauptstadt Kabul ein. Seitdem hat sich im Land de facto eine neue Macht etabliert. Die Weltgemeinschaft begegnete den streng bewaffneten Männern mit Misstrauen, die sofort Kurs auf den Aufbau eines islamischen Staates nahmen – mit all seinen radikalen Ausprägungen wie Einschränkungen der Frauenrechte oder dem Verbot, sich den Bart zu rasieren. Doch wie auch immer: Die Bewegung, die in vielen Ländern als terroristisch eingestuft ist, regiert Afghanistan nun seit vier Jahren und scheint nicht die Absicht zu haben, ihre Positionen aufzugeben.

Zurück in die Vergangenheit

Der Aufstieg der Taliban zur Macht wurde möglich, nachdem die Vereinigten Staaten das „Afghanistan-Projekt“ leid waren. Im späten Frühjahr 2021 begannen die USA und ihre Verbündeten, das Land zu verlassen – in aller Eile. Gleichzeitig begannen die Radikalen nahezu ohne Widerstand, eine Stadt nach der anderen einzunehmen. Die afghanische Armee weigerte sich oft nicht nur, Kämpfe mit den Taliban aufzunehmen, sondern übergab dem Gegner widerstandslos westliche Technik und moderne Waffen.

Den Ereignissen war ein Dialog zwischen den Taliban und den Vereinigten Staaten vorausgegangen. Die Gespräche fanden im Februar 2020 in Katars Hauptstadt Doha statt. Am Ende einigten sich die Amerikaner darauf, ihre Truppen aus Afghanistan abzuziehen – im Gegenzug dafür, dass die verschiedenen politischen Kräfte im Land die Macht friedlich teilen und idealerweise eine gemeinsame Regierung bilden würden.

Im Rückblick auf das Doha-Abkommen bezeichnete einer der Taliban-Führer, Anas Haqqani, das Dokument fünf Jahre nach seiner Unterzeichnung als eine „Niederlage der Vereinigten Staaten“.

„Unsere Anführer glaubten damals nicht einmal daran, dass die andere Seite nach der Unterzeichnung zurückweichen könnte, weil es keinerlei Garantien gab. Aber wir wollten ihre Unterschrift vor den Augen der ganzen Welt haben – und in Wahrheit war es eine Unterschrift unter ihre Niederlage. Wie auch immer sie es jetzt nennen mögen – Frieden oder sonst wie“, erklärte der Politiker.

Er fügte hinzu, die Taliban hätten ursprünglich beabsichtigt, in Kabul einzuziehen, mit der amtierenden Regierung zu verhandeln und eine legitime Machtübergabe an die radikale Bewegung zu erreichen. Doch, so Haqqani,

„diese Pläne wurden durch Präsident Aschraf Ghani zunichtegemacht, der am 15. August 2021 aus dem Land floh. Da ein Machtvakuum entstand, blieb den Taliban nichts anderes übrig, als die Zügel der Herrschaft selbst in die Hand zu nehmen.“

Sitzung der Taliban-Regierung. Foto: vedomosti.ru

Der ehemalige afghanische Außenminister Mohammad Hanif Atmar ist überzeugt, dass die meisten Punkte des Doha-Abkommens sowohl von den Taliban als auch von den Amerikanern ignoriert wurden. Dabei gehe es insbesondere um den Kampf gegen den Terrorismus, innerafghanische Friedensgespräche, die Bildung einer neuen islamischen Regierung sowie die Einstellung der Kampfhandlungen. De facto sei nur eine Vereinbarung umgesetzt worden – der Abzug der ausländischen Truppen aus dem Land.

Gleichzeitig nimmt der Diplomat auch den damaligen Präsidenten Aschraf Ghani in die Verantwortung und ist der Ansicht, dass die damaligen politischen Führer, getrieben von persönlichen Interessen und verstrickt in Korruption, das Volk verraten hätten. Darüber hinaus bezeichnet Atmar eben diese Personen als den Hauptgrund für den Zusammenbruch der Republik, aus der die Taliban ein ihnen völlig untergeordnetes Emirat gemacht haben.

Millionen überflüssiger Menschen

Übrigens, nach Angaben seiner Sicherheitskräfte soll der ehemalige Präsident Aschraf Ghani Afghanistan nicht mit leeren Händen verlassen haben – er habe „Hunderte Millionen Dollar“ in bar mitgenommen. Auch wenn der Politiker später solche Gerüchte zurückwies, kann man davon ausgehen, dass er und sein Umfeld nicht in Armut geraten sind. Ghani etwa fand Zuflucht in den Vereinigten Arabischen Emiraten, wo er sich „aus humanitären Gründen“ aufhält.

Für die einfachen Afghanen erwies sich die Machtübernahme der Taliban jedoch als weitaus kostspieliger. Viele erinnern sich sicher noch an die erschütternden Bilder aus dem Jahr 2021, als Menschen, die das Land verlassen wollten, sich buchstäblich am Fahrwerk der letzten amerikanischen Flugzeuge festklammerten – einige von ihnen stürzten aus großer Höhe in den Tod. Solche verzweifelten Gesten zeigten nur eines: Unter der Herrschaft bärtiger Kämpfer hatten diejenigen, die die US-Armee oder die frühere Regierung unterstützt hatten, keine Überlebenschance.

Natürlich löste die Konsolidierung der Taliban mit ihrer radikalen Haltung eine riesige Flüchtlingswelle aus: Millionen Menschen flohen ins Ausland, aus Angst vor Vergeltung durch die Kämpfer. Mit den Jahren nahm die Zahl der Migranten weiter zu, da sich das Leben im Land wirtschaftlich und sozial verschlechterte – und die Afghanen verständlicherweise ihr Glück im Ausland suchten. Nach Schätzungen internationaler Organisationen sind seit August 2021 in wenigen Jahren rund 600.000 Afghanen nach Pakistan gegangen, etwa 1,5 Millionen nach Iran.

Doch so einfach ist es nicht. Die Nachbarstaaten organisieren regelmäßig Massenabschiebungen von Flüchtlingen. Auslöser solcher Entscheidungen können unterschiedliche Ereignisse sein. Im Fall Pakistans dienen etwa Schießereien an der Grenze als zusätzlicher Anlass, Afghanen zurückzuschicken. Und der Iran beschuldigte Migranten wiederholt der Spionage für Israel. Daraufhin wurden nicht nur die Verdächtigen selbst und ihre Angehörigen, sondern auch andere Stammesangehörige abgeschoben.

Afghanische Flüchtlinge. Foto: parstoday.ir

Nach Angaben der UN haben Iran und Pakistan in den vergangenen Jahren zusammen mehr als drei Millionen Afghanen in ihre Heimat abgeschoben. Auch Tadschikistan leistet seinen Beitrag zu diesem Prozess: Dort leben rund 10.000 afghanische Flüchtlinge. Im Juli dieses Jahres wurde bekannt, dass die Republik ihnen 15 Tage Zeit gab, um freiwillig zurückzukehren. Die meisten von ihnen sind ehemalige Soldaten und Beamte der früheren Regierung – ihre Rückkehr dürfte mit hoher Wahrscheinlichkeit Folter und Hinrichtungen bedeuten. Wie viele Betroffene konkret eine Abschiebungsmitteilung erhalten haben, ist unklar, doch das Ultimatum löste unter allen, die sich in Tadschikistan vor dem Taliban-Regime versteckt haben, Unruhe aus.

Nach Angaben der IOM hat Tadschikistan vom 17. Juli bis 10. August etwa tausend Menschen zwangsweise abgeschoben. Das Innenministerium erklärte, diese Personen hätten „das Gesetz verletzt“ und seien deshalb nach Afghanistan zurückgeführt worden.

Doch nicht nur Afghanistans Nachbarn betreiben Abschiebungen. In den USA, wo der für seine harte Haltung gegen Migranten bekannte Donald Trump an der Spitze steht, wurde seit dem 12. Juli dieses Jahres der Status des „vorübergehenden Schutzes“ für afghanische Staatsbürger aufgehoben. Das Weiße Haus begann mit der Prüfung der individuellen Akten, um zu entscheiden, wem der Verbleib in den Vereinigten Staaten erlaubt wird. Laut Medienberichten droht mehr als 11.000 Afghanen die Abschiebung in das „Land der Taliban“.

Auch Europa erweist sich nicht als allzu verlässlicher Zufluchtsort für Flüchtlinge. Bereits bekannt wurde ein Fall von Abschiebungen durch die ansonsten als ausländerfreundlich geltende deutsche Regierung. Im vergangenen Jahr schickten die Deutschen erstmals seit 2021 wieder afghanische Staatsbürger zurück. Betroffen waren 28 „verurteilte Straftäter“. In der deutschen Öffentlichkeit stellte sich sofort die Frage, ob nicht eine massenhafte Abschiebung von Migranten organisiert werden sollte – insbesondere jener Afghanen, die „zu Gesetzesverstößen neigen“. Übrigens erhielten die Abgeschobenen bei ihrer Ausreise von Berlin jeweils 1.000 Euro. Immerhin etwas.

Doch was sollen Menschen tun, die gewaltsam in ihre Heimat zurückgeführt werden – ohne Wohnung, Arbeit und Lebensgrundlage? Eine rhetorische Frage. Im Mai dieses Jahres veröffentlichte die UN einen Bericht zu diesem Problem und erklärte, die Taliban seien nicht in der Lage, die Repatriierung von Millionen Flüchtlingen zu bewältigen. Experten betonen, dass die Rückkehrströme die ohnehin unter den Taliban grassierende humanitäre Krise erheblich verschärfen werden.

Taliban-ban-ban-ban

In der Innenpolitik verhält sich die Taliban-Bewegung so, als wolle sie das Buchstabenkürzel ban in ihrem Namen rechtfertigen – ein Wort, das im Englischen „verbieten“ bedeutet. Praktisch unmittelbar nach der Machtübernahme begannen die Hüter der islamischen Normen, zahlreiche Einschränkungen einzuführen. Die meisten betrafen Frauen: Ihnen ist es nun verboten, Sport zu treiben, in Parks spazieren zu gehen oder ohne männliche Begleitung auf die Straße zu gehen. Außerdem wurden in Afghanistan die Schulen für Mädchen über 12 Jahren geschlossen, Frauen der Zugang zu Universitäten und zu Tätigkeiten im öffentlichen Dienst untersagt sowie das Erscheinen in der Öffentlichkeit ohne Hidschab verboten. Das Frauenministerium wurde abgeschafft und durch das „Ministerium für die Förderung der Tugend und die Verhinderung des Lasters“ ersetzt – eben jene Behörde, die all diese Verbote gesetzlich verankert.

Mit den Jahren wuchsen die „Appetite“ des Ministeriums. Inzwischen haben Afghaninnen auch das Recht verloren, öffentlich zu sprechen, zu singen oder den Koran laut vorzulesen. Denn nach Ansicht der Taliban-Geistlichen gilt die weibliche Stimme als intim und verführerisch – und Fremde sollten sie nicht hören.

Afghaninnen. Foto: rbk.ru

Darüber hinaus wurden Schönheitssalons im Land verboten, obwohl sie für viele Afghaninnen, insbesondere für die Einwohnerinnen Kabuls, eine wichtige Einkommensquelle darstellten. Trotz der strengen Regeln boten Frauen weiterhin Friseur- und Kosmetikdienste zu Hause an. Doch auch diese Form privater Tätigkeit akzeptierte das „Ministerium zur Verhinderung des Lasters“ nicht. In der Hauptstadt fanden Razzien statt, die zur Schließung illegaler Salons führten. Augenzeugen berichten jedoch, dass Sicherheitskräfte mitunter andeuteten, gegen Bestechungsgelder oder sogar „intime Gefälligkeiten“ ein Auge zuzudrücken. Es zeigt sich also, dass die Prinzipienfestigkeit der Taliban in Sachen Korruption, für die sie einst die Regierung Ghani kritisiert hatten, nicht immer gilt.

Auch Männer blieben von den Vorschriften nicht verschont, doch im Vergleich zu den Bestimmungen für Frauen fallen die Einschränkungen für sie deutlich milder aus. So dürfen sie sich nicht europäisch frisieren lassen, sich nicht rasieren, den Bart nicht kürzer als eine Faustlänge schneiden und keine Freundschaften mit Ungläubigen (Nicht-Muslimen) pflegen.

Darüber hinaus verboten die Taliban die Darstellung von Menschen. Dies betrifft in erster Linie die Fernsehsender, die nun Radios ähneln: Ein Sprecher liest die Nachrichten und andere Informationen zu einem Standbild. Manche Ministerien lösten das Problem auf ihre Weise – etwa indem sie zu Pressemitteilungen über Delegationstreffen Fotos von Räumen mit Flaggen und leeren Stühlen auf Webseiten und in sozialen Netzwerken veröffentlichten. So entsteht eine Art Illustration von Verhandlungen im „Vorher-“ oder „Nachher-Format“ – nur nicht „währenddessen“. Wie lokale Medien berichten, brechen die Behörden dieses Verbot allerdings dann, wenn es ihnen nützlich erscheint. Um gesellschaftliche Streitfragen zu erläutern, werden beispielsweise Videoaufnahmen mit Reden der Anführer erstellt und verbreitet.

Patrouille der Taliban. Foto: ria.ru

Eine Fortsetzung der Geschichte um das Verbot von Menschendarstellungen ist eine Nachricht aus der Provinz Daikundi, wo die Hüter des Gesetzes ihre Aufmerksamkeit auf Tischfußball richteten – ein Spiel, bei dem man kleine Figuren steuert, um Tore zu erzielen. Die Taliban sahen in den Figuren „Götzen“ und schnitten den Plastikmännchen kurzerhand die Köpfe ab. Das Spiel selbst wurde allerdings nicht verboten, auch wenn die Spielfläche nun wohl ziemlich surreal wirkt.

Weniger Glück hatten hingegen die Schachspieler: Die Taliban erklärten das jahrhundertealte Spiel für „haram“, also praktisch für eine „Sünde“, und lösten den Verband dieser Sportart auf.

Moskau hat anerkannt – wer folgt als Nächstes?

Unterdessen haben die Taliban auf internationaler Ebene gewisse Erfolge erzielt. Im April dieses Jahres hob der Oberste Gerichtshof Russlands das Verbot der Taliban-Aktivitäten im Land auf und strich die Bewegung von der Liste terroristischer Organisationen, auf die sie 2003 gesetzt worden war. Zuvor hatten ähnliche Schritte auch andere postsowjetische Republiken unternommen – Kasachstan und Kirgisistan.

Im Juli war Russland das erste Land der Welt, das das Islamische Emirat Afghanistan offiziell anerkannte. Am Gebäude der afghanischen Botschaft in Moskau wurde bereits die neue, von den Taliban eingeführte Flagge mit der Schahada (dem Bekenntnis zum Glauben an den einen Gott) auf weißem Grund gehisst. Damals wurde betont, dass Präsident Wladimir Putin diese Entscheidung auf Vorschlag von Außenminister Sergej Lawrow getroffen habe – als Zeichen der freundschaftlichen Haltung Russlands gegenüber dem afghanischen Volk.

Gleichzeitig versucht Kabul, eine aktive handels- und wirtschaftliche Zusammenarbeit mit vielen Staaten aufzubauen, insbesondere mit den Nachbarländern. Hervorzuheben ist Usbekistan, das regelmäßig humanitäre Hilfsgüter liefert und auf verschiedenen Ebenen Treffen mit Taliban-Delegationen abhält. Vor nicht allzu langer Zeit empfing der Präsident der Republik, Schawkat Mirsijojew, Vertreter der radikalen Bewegung – er war wohl der erste Staatschef, der direkte Gespräche mit den neuen Machthabern Afghanistans führte.

Flagge des Islamischen Emirats Afghanistan an der Botschaft in Moskau. Foto: tass.ru

Darüber hinaus wurden in afghanischen Städten usbekische Handelshäuser eröffnet, und es finden regelmäßig Treffen von Geschäftsleuten statt. In Termez, unweit der Grenze zum Emirat, besteht seit 2022 ein internationales Handelszentrum. Afghanische Bürger dürfen diesen Komplex ohne Visum besuchen, sich dort bis zu 15 Tage ohne Genehmigung aufhalten und Geschäfte oder andere Einrichtungen mieten.

Ganz ohne Zwischenfälle verlief die Kooperation jedoch nicht. Im vergangenen Jahr tauchten Berichte auf, wonach die Taliban usbekische Beamte gebeten hätten, im „Termez“-Komplex Konzerte und andere Musikveranstaltungen zu verbieten, da diese Kunstform in Afghanistan bekanntlich untersagt ist. Das usbekische Außenministerium erklärte jedoch bald, dass es keine derartigen Bitten von den Partnern erhalten habe. In diesem Jahr wiederum wurde berichtet, dass die Taliban Frauen unter 40 Jahren den Besuch des internationalen Marktes in Usbekistan untersagt hätten. Offenbar gilt diese Einschränkung tatsächlich, da Händler über einen Rückgang der Kundschaft klagten – früher seien Afghanen häufig mit ganzen Familien, einschließlich Frauen, angereist. Nach Angaben der Geschäftsleute führte dieses weitere geschlechtsspezifische Verbot zu sinkenden Umsätzen.

Trotz solcher Vorfälle arbeiten die Nachbarstaaten aktiv zusammen. So einigten sich Kabul und Taschkent darauf, den gegenseitigen Warenumsatz bis Ende 2025 auf 2 Milliarden US-Dollar zu steigern. Außerdem spielt Usbekistan eine bedeutende Rolle beim Bau der Transafghanischen Eisenbahn, die die Taliban als strategisch wichtiges Projekt bezeichnen.

Kurzum: Immer mehr Staaten der Welt – selbst wenn sie das Emirat nicht offiziell anerkennen – rechnen mit den Taliban als einer realen politischen Kraft. Das dürfte bedeuten, dass die bärtigen Radikalen diesmal ernsthaft und auf lange Sicht gekommen sind, um Afghanistan zu regieren.

*Die Organisation wird als terroristisch eingestuft und ist in mehreren Ländern verboten.